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Systematische Theologie – Menschenwürde zwischen Theologie, Philosophie und Gesellschaft

Dieses Aufgabengebiet wurde erstellt von Christian Paul Hölzchen.
 

‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘ – so beginnt unser Grundgesetz. Der Satz klingt wie ein Bibelspruch – er steht aber nicht in den 10 Geboten, sondern wurde 1949 als Grundlage unseres Staates nach der Diktatur entworfen. Im Kontext unserer Verfassung ist er als Begründung der Grundrechte und damit als ein Machtwort gegenüber der Zeit von 1933 – 1945 zu verstehen: Der Staat darf mit Menschen nicht alles anstellen, sondern muss jedem Menschen seine Existenz zugestehen.

Was mit dieser Würde gemeint sein soll, und wie wir sie begründen können, ist aber alles andere als eindeutig. Der Bezug auf den Menschen scheint nur auf den ersten Blick klarer: Er soll aussagen, dass niemandem aufgrund von Merkmalen wie ‚Rasse‘, Geschlecht o. Ä. diese Würde aberkannt werden darf. Aber was für ein Menschenbild steht hier eigentlich im Hintergrund?

In den folgenden Aufgaben werfen wir einen Blick auf die traditionelle Bezugsfigur der Menschenwürde, Immanuel Kant. Als Kontrast betrachten wir das Menschenbild Martin Luthers. Vor diesem Hintergrund stellen wir einige grundlegende Überlegungen zu Widersprüchen und Gemeinsamkeiten der philosophischen (Kant) und der reformatorisch-theologischen Perspektive (Luther) an – am Beispiel ‚Sterbehilfe‘ denken wir außerdem über ethische Konsequenzen nach.


Das Quellen- und Literaturverzeichnis zu dieser Seite finden Sie hier.

Aufgabe 1 von 5

DIE WÜRDE DES MENSCHEN – EINE FOLGE DER VERNUNFT?

Eine heute noch berühmte Festschreibung der Würde des Menschen, auf die sich wohl das Grundgesetz auch vor allem beruft, stammt von Immanuel Kant. Sie findet sich in seiner 1785 erschienen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Das Buch steht zwischen Kants Kritik der reinen Vernunft (1781/²1787) und seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) und stellt bereits die ethische Grundfigur Kants, den ‚kategorischen Imperativ‘, vor.

Vor dem Abschnitt mit der bekannten Würdedefinition, den wir gleich betrachten, hat Kant bereits Autonomie (also die Selbstgesetzgebung durch Vernunft) von der Heteronomie abgegrenzt (die Fremdbestimmung bedeutet, aber auch vorliegt, wenn wir einfach nur unseren Trieben und Interessen nachlaufen). Für Kant gilt nur als moralisch, was auch ein Gesetz für alle werden könnte.

Die Vorstellung, dass wir alle auf diese Weise moralisch zusammenleben, nennt Kant das ‚Reich der Zwecke‘ und schreibt dazu:

„Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle. Hiedurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze, d. i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen auf einander, als Zwecke und Mittel, zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur ein Ideal) heißen kann.
[...]
Die praktische Notwendigkeit nach diesem Prinzip zu handeln, d. i. die Pflicht, beruht gar nicht auf Gefühlen, Antrieben und Neigungen, sondern bloß auf dem Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander, in welchem der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muß, weil es sie sonst nicht als Zweck an sich selbst denken könnte. Die Vernunft bezieht also jede Maxime des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen Willen, und auch auf jede Handlung gegen sich selbst und dies zwar nicht um irgend eines andern praktischen Bewegungsgrundes oder künftigen Vortheils willen, sondern aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst giebt.

Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.

Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemüthskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen innern Werth, d. i. Würde.

Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann, weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.“

(Kant, „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, in Kant’s gesammelte Schriften, 433-435) [Hervorhebungen im Original in gesperrter Schrift].

Zum zitierten Abschnitt finden Sie nun einige Aussagen – bitte kreuzen Sie an, was richtig ist.

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Was am Menschen zählt ist alleine die Vernunft.

Genau. Kant spricht von einem inneren Wert, konkret geht es dabei um das vernünftige Denken. 

Kant stellt sich eine Welt vor, in der alle machen, was er sagt.

Nein. In dieser vernünftigen Welt ist genau der Witz, dass mit der Vernunft jede*r allgemeine moralische Gesetze formulieren kann, die dann für alle gelten. Also kann (zumindest der Theorie nach …) auch Kants treuer Diener Lampe dem alten Professor moralisch etwas vorschreiben.

Wenn vernünftige Außerirdische auftauchten, dann hätten sie nach Kant dieselbe Würde.

In der Tat. Kant kann den bekannten Tieren zwar keine Würde zugestehen, aber eben nur, weil sie keine Vernunft haben. Kant stellt sich an einigen Stellen Außerirdische vor – und wenn diese vernünftig sind, dann gilt das Sittengesetz auch für sie.

Wir spüren, dass andere eine Würde haben.

Nein. Es geht bei Kant um ein vernünftiges Gesetz, das wir notwendig anerkennen müssen – ganz ohne Gefühl: Als moralische Wesen können wir eigentlich gar nicht anders, als andere Menschen besonders zu schätzen. Aber das liegt allein an der Vernunft.

Wir dürfen andere Menschen für unsere Zwecke einspannen.

Der Satz stimmt, wenn man einen Moment logisch nachdenkt. Kants Pointe ist, dass man andere nicht benutzen darf, wenn man sie nicht zugleich besonders achtet. Damit ist es grundsätzlich erlaubt, nur eben mit dieser genannten Einschränkung.

Kants Fassung der Würde ist bis heute bedeutsam: Man darf andere nicht einfach instrumentalisieren, sondern muss sie als ‚Zwecke an sich‘ achten. Als Kriterium wird das Argument vor allem in der Bioethik herangezogen.

Der Vorteil der ‚Vernunft‘ als Definitionsgrundlage für die Menschenwürde ist, dass sie gleichzeitig die Gleichheit garantiert und das Mittel bereitstellt, mit dem alle gleichermaßen Ansprüche geltend machen können.

Kritisieren lässt sich diese Vernunftfixierung allerdings trotzdem: Ist das Leben denn nicht mehr als das rationale Denken? Und riskieren wir nicht, Menschen aus dem Blick zu verlieren, die sich mit der Vernunft schwertun?

Wir wenden uns nun einer ganz anderen Stimme zu, nämlich dem Reformator Martin Luther, dessen Menschenbild die Bedeutung der Vernunft deutlich einschränkt.